Radio als Kunst, Kunst als Radio

Sarah Washington

2005, als das Radiokunst-Netzwerk Radia geboren wurde, dessen Mitglieder Community-, Campus- und freie Radiostationen sowie assoziierte Rundfunkanstalten sind, lag die große Frage in der Luft: „Was ist Radiokunst?“. Damals wollten die Gründer des Netzwerks, von denen einige schon lange in die Produktion von Kunst für das Radio involviert waren, eine Debatte über diese Frage anstoßen – in der Hoffnung, dass jemand mit einer schlauen Formulierung auftreten würde, die auf den Punkt brächte, was wir zu fördern versuchten.

Die Diskussion ging nie richtig los, weil die Betroffenen viel mehr mit dem alltäglichen Problem zu tun hatten, ihre Radiostationen am Laufen zu halten. Diejenigen, die darauf angewiesen waren, Künstler einzuladen um Shows für das Netzwerk zu machen, stellten wiederholt diese scheinbar große und wichtige Frage, aber nach einigen Monaten kamen sie zu dem Schluss, dass alles das, was als ein künstlerisches Angebot für das Radio aufgefasst werden kann, möglich sei. Sehr viel einfacher war es, zu definieren, was wir nicht für Radiokunst hielten; deshalb wurden einige Dinge leidenschaftlich zurückgewiesen: übliche DJ-Auftritte, unbearbeitete Aufnahmen von Livekonzerten und Vorträgen sowie Klangkunst, die einfach von einer CD abgespielt wird. Wir wollten Werke, die von Künstlern speziell für das Radio geschaffen wurden.

Wie durch ein kleines Wunder ist Radia, das nur vom guten Willen und Enthusiasmus lebt, auch noch 2016 lebendig. Es rotiert in einem wöchentlichen Turnus, indem jeweils eine der 26 Stationen in 17 Ländern eine Show anbietet, die von allen Sendern ausgestrahlt wird. Im September wird Radia zum 600sten Mal ein einzigartiges Werk herausbringen, und das Netzwerk wächst weiter.

In den Jahren, die der Gründung von Radia folgten, wurde klar, dass es nicht unbedingt nötig war, zu irgendeiner Definition von Radiokunst zu kommen, vor allem weil wir immer nach Künstlern gesucht hatten, die durch ihr Werk den Begriff Radiokunst ständig neu definieren. Wir wollten gewiss nicht die Entwicklung eines spezifischen Stils verbreiten, der eines Tages in einer Sackgasse enden könnte, einfach dadurch, dass er zum Objekt wissenschaftlicher Studien wird. Es war eine Erleichterung, dass wir uns jetzt einfach auf Radiokunst ohne irgendeine Notwendigkeit der Rechtfertigung oder irgendeinen Versuch der Selbstanpreisung beziehen konnten und sie weiterhin produzieren und andere ermutigen konnten, dasselbe zu tun.

Es gibt einen sehr guten Grund, warum es so schwierig ist, Radiokunst zu definieren, und der liegt darin, dass sie nicht ein einzelnes Ding ist, sondern in der Tat viele verschiedene Dinge, die vielleicht nur durch ihre Verbindung mit dem Medium Radio in Beziehung gesetzt werden können. Wenn wir – zum Vergleich – über das Schreiben in all seinen Formen als Kunst sprechen wollten (was selten getan wird), könnten wir eine vielfältige und sich immer verändernde Verschiedenheit von Formen beschreiben: Roman, Lyrik, Essay, Songtext, Drehbuch, Hörspielskript, Graffiti, Kalligrafie, Notenschrift, Tagebuch, Biographie, Brief, Hieroglyphe, Computercode. Einige dieser Formen stehen nicht für sich allein, weil sie innerhalb eines anderen Mediums funktionieren, andere aber können gleichzeitig mehr als einer Kunstkategorie zugeschrieben werden. Und selbstverständlich trifft das auch für die verschiedenen Formen von Kunst zu, die für das oder mit dem Radio geschaffen wird.

Zwei Hauptbereiche sind relativ leicht zu erkennen, weil sie auch die Basis für die Radiorevolten bilden. Sie können miteinander in Beziehung gesetzt werden, operieren aber häufiger völlig getrennt. Zunächst zur Arbeit ‚für‘ das Radio. Das ist ein Gebiet mit einer so langen Geschichte, wie sie das Medium selbst hat: Radiophone Produktion, nicht im Wörterbuchsinn von elektronisch produzierter Musik, sondern in einem weiteren Verständnis von Klang, der mit der spezifischen Absicht fiktionalisiert wird, im Radio gehört zu werden. Dieser Typ von Werk akzeptiert alle Rezeptionsbedingungen von LoFi über HiFi bis hin zu der Vermischung mit den Klängen des Alltagslebens. Es ist das, was du aus jedem Endgerät hörst, den du wählst, um zuzuhören, was heutzutage kein Radio mehr sein muss. Das Werk ist immer noch für deine Ohren geschaffen, ob es die akzeptierten Regeln von Dramaturgie, Klangdesign und Partitur benutzt oder zurückweist. Es benutzt oft die menschliche Stimme als Haupt- oder Zweitkomponente, aber auch, wenn es keine Stimme gibt, schafft es es, sich durch seine radiophone ,Neigung’ von Musik oder Klangkunst zu unterscheiden. Das ist eine schwer zu definierende Eigenschaft, die man aber leicht erkennt, wenn man ein besonderes Stück hört. Vielleicht helfen uns hier ein paar Fragen weiter: Entlockt das Werk der Phantasie Bilderfluten? Schafft es sich einen Raum, um immer wieder anders wahrgenommen zu werden? Treibt es in eine Richtung, hat es verschiedene Schichten, färben Stimmung, Konzentration oder äußere Umständen die Wahrnehmung des Werkes? Arbeitet das Werk so mit dir zusammen, dass es zur Tonspur deines Bewusstseinszustandes wird? Wie abstrakt oder prosaisch ein Werk auch immer sein mag, radiophoner Klang nimmt dich mit auf eine intime innere Reise. Es mag Elemente von Drama, Klanglandschaft, Dokumentation, Lyrik, Komik, Musik, Nachrichten, Spoken Word oder Live Performance haben – letzten Endes entscheidet darüber, was es ist, der Gebrauch von unterschiedlichen Klangelementen, die erzählerisch verschieden und subtil kombiniert werden.

Ein radiophones Werk wird zu einer doppelten Erscheinung, wenn es vor Zuhörern zur selben Zeit aufgeführt wird, zu der es ausgestrahlt wird. Die Sendung bekommt eine zusätzliche Dimension, weil der Performer zeitgleich danach strebt, mit beiden Zuhörerschaften zu kommunizieren (mit dem ihm sichtbaren und dem unsichtbaren Publikum). Diese beiden Zuhörerschaften sind im Senden und Empfangen miteinander verknüpft – neben dem Klang erreicht die Radiozuhörer die energetische Lebendigkeit der Aufführung in dem dortigen akustischen Raum, während sich am Ort des Sendens eine Radiosensibilität entwickelt, wo die Zuhörer zu einem elementaren Bestandteil der Sendung werden. Dies ist ein Gebiet der Radiokunst, an dessen weiterer Erkundung wir besonders stark interessiert sind; deshalb haben wir für das Festival viele öffentliche live to air Veranstaltungen in Auftrag gegeben.

Das zweite große Hauptgebiet der Radiokunst, die Arbeit ‚mit‘ dem Radio, beruht auf der Auseinandersetzung mit der Radiotechnik, das meint die Beschäftigung mit der Apparatur oder der Bedingung des Sendens. Das umfasst alle Arten von (akustischen und/oder visuellen) Installationen und Klang-Performances, die einen Aspekt der Übertragung oder Rezeption als Material für das Werk einsetzen. Jeder Aspekt der Technik kann vorkommen, ob die Hardware von Sendern, Empfängern, Antennen, Drähten, Röhren oder anderen Bestandteile, typischerweise als Instrumente der Rückkopplung oder anders in Verbindung mit den elektromagnetischen Effekten der Reibungselektrizität, Interferenz oder atmosphärischer Störungen. Solche Effekte treten entlang des gesamten Spektrums der Radiofrequenz auf: von der sehr niedrigen Frequenz (VLF) des natürlichen Radios, wo die Aktivität von Sonnenflecken, Blitzschlag und anderen atmosphärischen Phänomene gefunden werden kann, bis hin zu den Bändern der Rundfunksender wie Kurzwelle, UKW, Mittelwelle und den Frequenzen des Amateurfunks und des CB-Funks.

Immer mehr Technologie schließt eine Form von Radio ein als wesentliches Werkzeug für heute allgegenwärtiges drahtloses Operieren. Sogar das Sendesignal eines Radiostudios an einen Sender kann über eine line-of-sight-uplink im Mikrowellenbereich (SHF) gesendet werden, andere Teile dieses Spektrums werden für Radioastronomie, Satellitenkommunikation, Radar und vieles mehr genutzt. Es ist unvorstellbar, wie viele Radiowellen unseren Körper in einem Augenblick durchströmen. Ob man von Künstlern (die sich entscheiden, mit dem Radio zu arbeiten) oder von Radiokünstlern sprechen will, eines ist klar: Es wird ihnen nie an Material mangeln, um damit zu arbeiten!

Bevor ich zum Ende komme, möchte ich das besondere Gebiet erwähnen, mit dem ich selber hauptsächlich zu tun habe. Es ist in den letzten Jahrzehnten aufgekommen, weil viele Faktoren zusammenkamen, von denen einer die Veränderung von Kommunikation zu einem neuen technologischen Paradigma ist. Das hat dazu geführt, dass Radio eine Kunstpraxis geworden ist, die sich grundsätzlich für Gesellschaft interessiert, indem sie Menschen mit spezifischen Interessen in starken lokalen und globalen Gemeinschaften zusammenführt. Das ist der Ort, wo Grenzen beseitigt werden und Kunst kaum mehr vom Alltagsleben zu trennen ist. Heutzutage ist es für eine kleine Radiostation nicht mehr undenkbar, dass sie als ein Kunstwerk bezeichnet und dass ihre Art von Kunst vom Einsatz für soziale Gerechtigkeit ununterscheidbar wird. Wenn du ein neues Radiokunstprojekt startest, egal, ob es so ehrgeizig ist, einen ganzen Radiosender zu gründen, oder ob es einfach nur um eine neue Radiosendung geht, um den Bau eines eigenen Senders oder um eine Transmissionart-Performance im öffentlichen Raum – immer lernst du, Kontrolle über deine eigenen Medien zu übernehmen. Du formst den Diskurs und kritisierst die Bedingungen von Macht, Zugang, Propaganda und Überwachung. Das ist eine Kunst, die nie verloren oder vergessen werden soll; solche Fähigkeiten können in der Zukunft noch bedeutsamer werden.