„Das Licht enthielt die fügsamen Elemente einer neuen Vielfältigkeit, die körperliche, wie in Spielzeugteile zerbrochene Welt; das Halbdunkel, Zustände des Friedens. Aber das Dunkel enthielt weder Elemente noch Zustände, sondern nur Formen, aber werdende und zu Fragmenten eines neuen Werdens zerfallende Formen, ohne Liebe oder Haß oder irgendein erkennbares Wandlungsprinzip. Hier gab es nur Aufruhr und die reinen Formen des Aufruhrs. Hier war er nicht frei, sondern ein Stäubchen im Dunkel absoluter Freiheit.“ (Samuel Beckett, Murphy, Frankfurt 1976, S.86 )
Im dunklen Raum fallen die Zeichen der Zeit aus. Das Radio und dessen Un-Ort, in dem gewartet wird, ist die Matrix der Imagination. Die Bilder sind noch ungeboren zwischen Erwartung und Erinnerung. Der Mensch in diesem Raum hat sich nicht eingefunden, um in sich zu gehen, sondern lauert darauf, dass etwas geschieht. Dennoch drängt sich die Introversion ein. Das Publikum, die Öffentlichkeit, die Anderen, wir: sind im Schatten, abgetaucht, einander nicht wahrnehmbar. Das verändert die Einstellung. Die Gestalten, die auf dem Hintergrund dieser Dunkelheit auftreten werden, dürfen zu wahrhaften Erscheinungen werden. Wir hingegen bleiben im Schutz der Tarnung des incognito Wartenden.
Der Hör-Raum versetzt zurück in die Zeiten, als Städte noch weitgehend dunkel waren. Dunkel fast wie die Wälder, und von Geräuschen erfüllt, Wagenrädern, Menschenstimmen. Im nächtlichen Wald ist es das Knacken und Rascheln von Ästen und Gebüsch, die in Bann halten, und die Stimmen von Tieren.
Die Radiokunst bedarf eigentlich ebensowenig einer Definition wie die Kunst insgesamt. Aber worin unterscheidet sich das, was wir Radiokunst nennen, vom „Rest“ der bildenden Kunst? Das Medium Hörfunk ist bislang definiert als Massenmedium zur Verbreitung von „wichtigen“, also relevanten Inhalten für Viele. Im Sinne der Verbreitung betrachten wir hingegen den Hörfunk als akustische Galerie, als zeitlich begrenzten Ort der nicht-sichtbaren, aber akustisch erlebbaren Kunst.
Darüber hinaus ist das Radio technisch beschrieben als Sender- Empfänger- Beziehung, die sich natürlich auch kommunikativ so lesen lässt. Es sind niemals viele Menschen, die gleichzeitig Radio an einem Ort hören. Somit ist das Radio-Kunst-Angebot ein nahezu privat erlebbares. Aber auch die technische Konstellation Senden-Empfangen wird zum Material der Radiokunst.
Was geschieht, wenn die gewohnte Situation des Nicht-Ortes Radio (imaginiertes Studio, imaginierter Sendemast, unbekannte HörerInnen- Situation) unversehens sichtbar und im öffentlichen Raum der Stadt erlebbar wird? Was passiert, wenn der Senderadius nur wenige Meter beträgt, das „Studio“ selbst in Bewegung gerät und die Situation des Sendens und Empfangens gleichsam selbst zum Kunstwerk wird?
Die Ereignisse der zeitbasierten Kunst: Brenngläser, in denen ein Moment Welt geschieht. Sie stellt eine wie auch immer absonderliche Wirklichkeit her, in der sich ein Spiel vollzieht. Das Spiel wird geformt und gebildet (sculptured) aus dem Sein.
Radiokunst lässt sich kaum beschreiben, das Material, das in Gebrauch genommen wird, ist nicht die Essenz des Vorgangs. Es kann Assoziationsketten bilden.
Füttern wir also die Mühlen der Assoziation…
Das Ereignis formt einen Raum in der Welt. Der ‚Ist-Zustand‘ ist zum Werden verflüssigt. Hier entfaltet sich die Wechselwirkung zwischen Intensität und Extensität (Ausgedehntheit). Das ‚Was ist es eigentlich‘ pendelt in der Schwebe wie die Doppeldeutigkeit von Welle und Korpuskel. Das Fühlbare ist nurmehr wie der Abguss eines stärkeren leeren, negativen, spürbaren Raums.
Die Wanderung durch die Sedimente und Schmutzschichten zur Erreichung welchen Ziels? Wo ankommen?
„Diesen Raum ‘virtueller Ereignisse’, diesen nicht-existierenden Horizont reiner Ereignisse, dieses ‚Worin‘ bezeichnet Deleuze mit spatium, als formlosen und offenen „Ungrund“, in dem Intensitäten ‘eingefaltet’ sind und sich zu Extensitäten, zu ‘Raum/Zeitgestalten‘, in extensio ‘ausfalten’..“
(Roland Faber in: Labyrinth, Vol.2, Winter 2000)
Radiokunst bietet neben seiner klassischen Form des Neuen Hörspiels also vielmehr Ebenen des akustischen Wahrnehmens, als es die Klangkunst, die Musik oder auch die physisch erlebbare Performance anbietet. Diese Ebenen werden erstmals gemeinsam erlebbar im Oktober 2016 – in Halle.
Ralf Wendt, Kurator
(Dank an fruchtbare Korrespondenz mit Christine Hoffmann)